In einer Welt voller Werksteams von Ferrari, Toyota, Peugeot, Porsche oder BMW ist es schon eine mittelschwere Sensation, wenn sich ein Kundenteam gegen die Großen durchsetzt. So passiert in Spa-Francorchamps, wo sich das Team Jota mit einem Kunden-Porsche 963 durchsetzte und den ersten Sieg eines Privatiers in der Hypercar-Ära der WEC errang.

Den Jota-Fahrern Will Stevens und Callum Ilott gelang obendrein das seltene Kunststück, als erste Zwei-Mann-Crew seit Toyotas Shanghai-Sieg 2014 (Buemi/Davidson) ein Rennen der Langstrecken-Weltmeisterschaft zu gewinnen. "Das kam ein bisschen unerwartet", resümierte Jota-Teamchef Dieter Gass am späten Samstagabend im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com.

WEC Spa: Highlights und Zusammenfassung zum Rennen (14:27 Min.)

Gehörige Portion Glück beim Jota-Sieg in Spa

Die Freude war dem früheren Audi-Motorsportchef ins Gesicht geschrieben, allzu große Emotionsausbrüche wollte er sich aber sparen. Wohlwissend, dass neben einer starken Rennumsetzung auch eine ganze Portion Glück dazu gehörte, dass Jota-Porsche beim dritten Saisonrennen einen sensationellen Sieg einfahren konnte. Unter normalen Umständen - also ohne die zweistündige Rennunterbrechung - "hätte Ferrari das Rennen wohl relativ leicht gewonnen", merkte Gass an.

Bis zum Abbruch mit roten Flaggen in Folge des Cadillac-BMW-Unfalls nach 4:15 Stunden (Runde 96) sahen die beiden Werks-Ferrari wie die sicheren Sieger aus. Dann entschied die Rennleitung - sehr zur Freude der Rekordkulisse aus 88.160 Zuschauern am Wochenende - eine Nachspielzeit von 1:44 Stunden anzupfeifen. Dieser regulatorisch erlaubte, aber eher ungewöhnliche Schritt brachte praktisch die Vorentscheidung.

Rot-Abbruch bringt Porsche-Duo eine Minute Zeitgewinn

Der #12 Jota-Porsche und der später Zweitplatzierte #6 Penske-Porsche (Lotterer, Estre, Vanthoor) hatten kurz vor der Rotphase (Jota in Runde 95, Penske in Runde 94) ihre jeweils vierten Boxenstopps eingelegt. Die #6-Crew hatte vor dem Rennen eigentlich einen späteren Boxenstopp anvisiert, passte ihre Strategie wegen eines erlittenen Bremsplattens vorne rechts aber an, wechselte bei Andre Lotterers Stopp nur diesen einen Reifen und kam nach dem folgenden Doppelstint dann früher als geplant rein.

Nach dem Re-Start hinter dem Safety Car hatten die beiden Porsche durch ihre Stopps zum rechten Zeitpunkt effektiv eine Minute Zeit gewonnen, weil viele Konkurrenten inklusive der Ferrari nach der Wiederaufnahme die Box zum Nachtanken ansteuern mussten. Während der Rot-Phase durften nur die Reifen gewechselt werden.

Was die Jota-Crew zunächst als einen Overcut-Boxenstopp gegen den #6 Porsche geplant hatte - Gass: "Dadurch haben wir die Chance gesehen, sie zu überholen" - sollte sich wenig später sogar als siegbringende Entscheidung herausstellen. "Wenn es keinen Re-Start gegeben hätte, wäre das für uns schlecht gewesen, weil wir auf P10 lagen", erklärte Gass. "Die Entscheidung, noch mal zu fahren, war für uns fantastisch. Dann war auch die Pace da, weil die Temperaturen etwas niedriger waren. Das hat uns ebenfalls in die Karten gespielt."

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Glückliche Spa-Sieger: Callum Ilott und Will Stevens, Foto: WEC

Jota-Porsche spart 11 Sekunden Zeit beim Boxenstopp

Der Brite Ilott übernahm erstmals in der 101. Runde die Führung, nachdem auch der zweite Ferrari in die Box abgebogen war, und gab sie bis zum Rennende nach der 141. Runde nicht mehr ab. Der glänzend aufgelegte Kevin Estre im #6 Werks-Porsche blieb Ilott zwar dicht auf den Fersen, konnte im baugleichen LMDh-Auto aber nicht zum sicheren Überholmanöver ansetzen. Die #6-Crew versuchte es beim letzten Boxenstopp in Runde 121 mit einem Kniff, indem alle vier Reifen am Porsche 963 gewechselt wurden.

Durch den kompletten Räderwechsel in 1:19 Minuten verlor Estre 11 Sekunden zu Rivale Ilott, dessen Boxenstopp in Runde 122 nur 1:08 Minuten dauerte. Gass: "Die haben vier Reifen gewechselt, wir nur zwei. Wir hatten schon vorher gewechselt und das Reifenkontingent ausgeschöpft. Wir hätten keine vier Reifen mehr gehabt in einem Zustand, in dem man auch mit ihnen fahren will."

Zur Erklärung: Reifenlieferant Michelin stellte den Teams in Spa-Francorchamps 12 Slick-Reifen für die Freien Trainings sowie 18 für das Qualifying und Rennen zur Verfügung. Beim Zieleinlauf um 20:55 Uhr am Abend hatte Ilott rund 12 Sekunden Vorsprung auf den #6 Porsche, der zum dritten Mal in dieser Saison aufs Podest fuhr und als WM-Spitzenreiter zu den 24 Stunden von Le Mans (15.-16. Juni 2024) reist.

Jota-Teamchef Dieter Gass: "Auf Augenhöhe mit dem Werk"

"Wir waren mit Blick auf die Pace ziemlich vergleichbar", sagte Gass. "Die 12 Sekunden Abstand kamen durch den Boxenstopp und dadurch, dass die #6 mit den vier frischen Reifen nicht mehr kompensieren konnte. Es ist schon gut, auf Augenhöhe mit dem Werk zu sein."

"Jota hat oft bewiesen, dass sie ein gutes Team sind, und die haben das gleiche Auto wie wir", sagte Andre Lotterer aus dem Zweitplatzierten #6 Porsche zu Motorsport-Magazin.com. "Die Autos sind nicht so komplex wie zu LMP1-Zeiten und die Teams fangen an, sie gut zu verstehen. Jota hat einen guten Job gemacht und es wäre interessant, zu sehen, was sie anders gemacht haben als wir."

Tatsächlich besteht während der Rennwochenenden kein Austausch zwischen Porsches Penske-Werksteam und den Kundenteams Jota sowie Proton Competition, was die reine Performance und den Datentransfer anbelangt. Nur bei technischen Problemen greift das Werk ein.

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Jota-Porsche feiert ersten Gesamtsieg in der WEC, Foto: WEC

Callum Ilott in den Top-4 der schnellsten Fahrer

Ein Sonderlob von Gass gab es für die fehlerfreie Leistung der beiden Fahrer, die sich in einem Rennen mit mehreren Zwischenfällen und heiklen Momenten absolut schadlos hielten. Während der frühere Formel-1-Fahrer Stevens zu Beginn durch eine eher konservative Energie-Strategie etwas eingebremst wurde und ein paar Plätze einbüßte, trumpfte Teamkollege Ilott später bei freier Fahrt an der Spitze auf.

Der 25-Jährige zählte im Mittel zu den vier schnellsten Piloten des Rennens. "Als wir aus dem Verkehr raus waren, war die Pace im Auto", so Gass. "In der ersten Hälfte haben wir ein bisschen gelitten und konnten unsere Stärken im zweiten Sektor nicht ausspielen."

Ilott und Stevens erzielten in Abwesenheit ihres wegen der Formel E verhinderten Teamkollegen Norman Nato den zweiten Podesterfolg und reisen als WM-Zweite hinter dem #6 Porsche-Trio Lotterer/Estre/Vanthoor zum Highlight nach Le Mans. Gass, der den Klassiker bestens aus erfolgreichen Audi-Zeiten kennt: "In Le Mans fängt alles bei null an. Wir können uns auf dem Sieg nicht ausruhen, aber ein bisschen Extra-Motivation gibt er uns schon."

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