Mercedes kehrte in Zandvoort erschreckend schwach aus der Sommerpause zurück. Nachdem Lewis Hamilton schon am Samstag eine bittere Qualifying-Niederlage einstecken musste, wurde das Formel-1-Wochenende in den Niederlanden für George Russell zu einem schleichenden Albtraum. Am Freitag noch Trainingsschnellster, ging es für ihn am Samstag und Sonntag Schritt für Schritt nach hinten. Von Startplatz vier aus wollte er eigentlich um einen Podiumsplatz kämpfen. Doch am Ende standen ein siebter Platz für Russell und ein achter Platz für Hamilton auf dem Ergebnispapier.
"Freitag und Samstag sah es ganz gut aus. Wir waren vielleicht ein oder zwei Zehntel hinter McLaren und Max. Jetzt waren wir kilometerweit hinten dran", war Russell nach dem Rennen konsterniert. Mercedes ist wieder hinter Ferrari, Red Bull und McLaren zurückgefallen, nachdem sie beim Belgien-GP zuletzt erste Kraft waren. Dieser Rückschritt lässt bei den Silberpfeilen die Alarmglocken schrillen. Über die Ursachen tappt das Team noch im Dunkeln.
Lewis Hamilton mit Aufholjagd, George Russell mit Rückschlag: Zandvoort enttäuscht Mercedes-Erwartungen
Immerhin: Hamilton legte von Startplatz 14 aus eine Aufholjagd hin. Er passierte schon in der Anfangsphase die beiden Racing Bulls, später folgten Nico Hülkenberg, Pierre Gasly und die beiden Aston Martins. Damit sorgte der Brite für reichlich Überholspaß auf dem engen Kurs in den Nordsee-Dünen. Trotzdem war er nach dem Rennen nur teilweise zufrieden: "Ich hatte das Gefühl, dass ich viel getan habe, aber ich bin nicht wirklich weit gekommen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mehr getan habe, als das Ergebnis widerspiegelt." Den größten Stein hatte sich Hamilton selbst in den Weg gelegt. "Leider hat es uns das Qualifying wirklich schwer gemacht. Ich denke, wenn ich mich dort qualifiziert hätte, wo ich hingehöre, wäre ich unter den Top-5 gewesen", war sich der Rekordsieger der Formel 1 sicher.
Mit Blick auf seinen Teamkollegen, der im Spitzenfeld gnadenlos unterging, darf Hamiltons Einschätzung allerdings angezweifelt werden. Russell konnte sich trotz aussichtsreicher Startposition nicht vorne behaupten. "Heute fehlte uns der Speed", brachte es der Trackside-Engineer Andrew Shovlin auf den Punkt. Dabei sah es auch bei ihm am Anfang noch vielversprechend aus: Mit einem starken Start zog Russell sofort an Oscar Piastri vorbei und lag den gesamten ersten Stint über an dritter Position.

"Nach den ersten paar Runden dachte ich, dass wir auf Podiumskurs wären", offenbarte Russell. Aber dieser Traum hatte sich für den zweifachen GP-Sieger auf dem zweiten Stint ausgeträumt. Charles Leclerc kam dank eines Undercuts am Mercedes-Fahrer vorbei. Ferrari wechselte in Runde 24 von Mediums auf Hards, Russell kam eine Runde danach zum Boxenstopp. Piastri überholte Russell später mit frischeren Reifen. Der Brite hingegen kämpfte auf dem harten Reifen, brachte ihn nicht zum Funktionieren und verlor durch einen erneuten Stopp schließlich auch noch Positionen an Carlos Sainz und Sergio Perez. Trotz neuer weicher Reifen konnte er sie auf den verbleibenden 18 Runden nicht mehr einholen.
Toto Wolff verneint Strategie-Panne: Wir hatten nicht viele Möglichkeiten!
Hat Mercedes also auf das falsche Strategie-Pferd gesetzt? Nach der Qualifikation kündigte Teamchef Toto Wolff am Samstag an, dass sie strategische Experimente in Erwägung ziehen. Die anderen drei Top-Teams setzten jeweils mit beiden Fahrern auf eine Ein-Stopp-Strategie und kamen vor den Silberpfeilen ins Ziel. Dahingegen fuhr Mercedes mit Russell eine Medium-Hard-Soft-Strategie und mit Hamilton eine Soft-Hard-Soft-Strategie. Wegen des starken Reifenabbaus hätten sie allerdings gar keine andere Wahl gehabt, als eine Zwei-Stopp-Strategie zu fahren, meinte Wolff.

"Ich glaube nicht, dass wir viele Möglichkeiten hatten. Unser Reifenabbau war wirklich schlecht, und wir hätten mit einem abbauenden Reifen da draußen bleiben und auf P7 oder P8 landen können oder es einfach mit zwei Boxenstopps versuchen und vielleicht Perez oder Sainz einholen können, was wir am Ende nicht geschafft haben", erklärte der Teamchef.
Bei Russell hätten sie den zweiten Stopp einlegen müssen, weil ihm schlicht und einfach die Reifen ausgingen. Wolff bekannte: "Der stärkere Reifenabbau ist wahrscheinlich zum Teil auf einige Entscheidungen zurückzuführen, die wir beim Setup getroffen haben." Hamilton hätte die Ein-Stopp-Strategie eventuell über die Ziellinie gebracht, wenn er nicht einen Verbremser gehabt hätte, der die Reifen kaputt machte und ihn zu einem weiteren Stopp zwang. "Seine Pace war aber durchweg gut und das macht uns Mut", bemerkte der Teamchef.
Für Andrew Shovlin war es eine Kettenreaktion, die Mercedes ins Hintertreffen brachte und dem insgesamt schlechten Zandvoort-Wochenende im Rennen die Krone aufsetzte: "Wir hatten keinen guten Grip und rutschten daher auf den Reifen herum. Das führte zu einem höheren Reifenabbau als bei unseren Konkurrenten und zwang uns zu einem Zwei-Stopp-Rennen."
Die Pace fehlte auf allen drei Reifenmischungen, wie Russell eingestand. "Wahrscheinlich hätte ich eine oder maximal zwei Positionen besser abschließen können. Aber wir hatten einfach keine Pace. Wir sind wie ein Stein zurückgefallen", klagte der Mercedes-Pilot. Besonders überrascht zeigte er sich über den Vergleich zu Ferrari: "Wir hatten erwartet, deutlich vor ihnen zu liegen. Aber Charles war schneller und Carlos hat mich eingeholt." Das erste Mal seit Monaco ist Mercedes wieder hinter Ferrari gelandet.
Des einen Leid, des anderen Freud: Die Mannschaft von Charles Leclerc und Carlos Sainz rätselt genauso wie Mercedes. Allerdings wurden sie in den Niederlanden von einem unerklärlichen Performance-Aufschwung positiv überrascht. Das Rennen von Ferrari haben wir für euch in diesem Artikel genauer unter die Lupe genommen:
Neuer Unterboden oder Setup schuld? Ahnungslosigkeit bei George Russell und Mercedes
"Heute hatten wir ein schlechtes Rennen", zeigte sich Toto Wolff angesichts des Rückschritts mit besorgter Miene. "Es war ein ziemlicher Kontrast zum Rennen in Spa, wo wir das Tempo vorgegeben und auf der Strecke die Plätze eins und zwei belegt haben." Nachdem Mercedes auf einem absoluten Hoch in die Sommerpause gegangen ist, ist der Fall umso härter. "Es ist schmerzhaft", gestand Wolff. "Aber manchmal ist es gut, Schmerzen zu haben, um einen Schritt nach vorne zu machen."
Darüber, woher dieser plötzliche Einbruch kommt, war sich das Team direkt nach dem Rennen noch nicht im Klaren. "Ehrlich gesagt kratze ich mir gerade noch den Kopf. Im Moment habe ich keine Antworten", gab George Russell zu. Er kann es nicht fassen: "Wir hatten sechs wirklich starke Rennen und dann sind wir plötzlich fast eine Minute hinter dem Sieg ins Ziel gekommen. Man verliert nicht über Nacht die gesamte Leistung. Gestern haben wir uns als Vierter qualifiziert und heute haben wir offensichtlich etwas nicht richtig hinbekommen." Deutet dies darauf hin, dass Mercedes ein falsches Setup für das Rennen gewählt hat?
"Diese Autos sind manchmal eine Überraschungskiste. Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen", erklärte Wolff diesbezüglich. "Wir werden uns die Sache in den nächsten Tagen ansehen und hoffentlich Hinweise in den Daten finden. Lag es am Setup? War es die Strecke? War es der Unterboden, den wir ans Auto angebracht haben? War es all das zusammen?" Der Teamchef wirkt ratlos.
Aber eines steht für ihn fest: "Der Leistungsunterschied zwischen P1, P2 [in Spa; Anm. d. Red.] und P7, P8 [in Zandvoort; Anm. d. Red.] - das war meiner Meinung nach keine einfache Setup-Entscheidung. So daneben kannst du im Setup gar nicht liegen." Stattdessen müsse es sich um ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren handeln, meinte Wolff und brachte das Update am Unterboden ins Spiel.
Der neue Unterboden wurde am Freitag in Spa-Francorchamps am Auto angebracht und dann wieder ausgebaut. In Zandvoort kam das Unterboden-Update zurück - zunächst für einen direkten Vergleichstests im FP1 nur bei Russell, danach an beiden Autos. Nach den durch Wetterkapriolen und einer langen Rotunterbrechung beeinträchtigten Trainingssitzungen hatten sie allerdings nur eine geringe Datenmenge zur Verfügung. "Dann haben wir wegen der fehlenden Fahrzeit vielleicht nicht die richtigen Entscheidungen für das Auto getroffen", suchte Wolff nach einer Erklärung.
Zandvoort-Debakel abgehakt - Kurskorrektur für Monza
Für Mercedes steht in den wenigen Tagen, die ihnen vor dem Formel-1-Wochenende in Monza bleiben, intensive Arbeit auf dem Programm. Die Daten, die sie heute in Zandvoort gewonnen haben, müssen genau analysiert werden, um zu verstehen, auf welche Faktoren das enttäuschende Ergebnis zurückzuführen ist. "Ich glaube, wir haben ganz eindeutige Ideen, was falsch gelaufen ist, aber das müssen wir natürlich bestätigen", lässt Toto Wolff einen Hoffnungsschimmer durchblicken und erteilt seinem Team einen klaren Auftrag.
Die Fahrer hoffen außerdem auf ein streckenspezifisches Problem. Das Streckenlayout, der hohe Reifenabbau und auch der starke Wind könnte sich negativ auf ihr Rennen ausgewirkt haben. Russell blickt deshalb nach vorne: "Die Performance variiert von Strecke zu Strecke, aber in den vergangenen sechs Rennen waren wir immer vorne mit dabei. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass es ein Ausrutscher war." Unter italienischer Sonne wollen sie wieder konkurrenzfähig sein.
Monza steht vor der Tür und damit Heimspiel für Andrea Kimi Antonelli. Der Formel-2-Pilot kommt in Italien gleich doppelt zum Einsatz. Zwischen den Sessions der Nachwuchsklasse wird der Mercedes-Junior im 1. Freien Training der Königsklasse einen der beiden Stammfahrer ersetzen. Alles dazu lest ihr hier:
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