McLaren gelang bei der Formel 1 in Ungarn ein Kunststück: Pole für Lando Norris, erster Sieg für Oscar Piastri, ein Doppelsieg, Übernahme von Platz zwei in der Team-WM - und doch erreichte man all das auf eine Art und Weise, die für alle Beteiligten einen faden Beigeschmack hinterließ. Besonders für Norris, den ersten Jäger von Max Verstappen in der Fahrer-WM.

Im Ziel gab sich Norris demütig, zollte Piastris kontrollierender Fahrt ins Ziel Respekt und verwies auf seinen schlechten Start als Grund für die Niederlage. Fakt bleibt aber, dass die McLaren-Strategie ihn während der Schlussphase in Führung spülte. Und dass Norris Piastri davonfuhr, ehe er der Teamorder zum Platztausch Folge leistete. Wer hätte dieses Rennen also wirklich gewinnen sollen?

Piastri nimmt Norris in erster Ungarn-Rennhälfte alle Chancen

Schon der Start war nicht allein gut von Piastri und schlecht von Norris. Letzter wurde zusätzlich von Max Verstappen eingebremst. Der hatte ihn abseits der Strecke überholt, und gab ihm den zweiten Platz erst in Runde 4 zurück. Das verschaffte Piastri aus dem Stand 2,5 Sekunden Luft. Die aber erhöhte er in den folgenden 10 Runden auf 3,5 Sekunden. Dort stabilisierte er sie.

Das ist wichtig, den mit einem Undercut kann man in Ungarn locker über eine Sekunde durch einen nur um eine Runde früheren Boxenstopp gewinnen. Mit dieser Lücke hatte Piastri also eine Undercut-Gefahr solide neutralisiert. McLaren stoppte daher schon beim ersten Reifenwechsel Norris zuerst, um auf einen potenziellen Undercut von Lewis Hamilton zu reagieren. Damit gewann Norris 1,2 Sekunden.

Doch die Lücke war viel zu groß, um etwas auszurichten. Nach dem Stopp machte sich Piastri außerdem gleich daran, erneut ein Polster aufzubauen. Bis Runde 32 waren es bereits ganze 4,4 Sekunden. Wäre er hier zwei Runden nach Norris gestoppt, hätte er trotzdem die Führung behalten. Doch als es später tatsächlich zur Sache ging, war der Puffer weg. Was war geschehen?

Piastri-Fehler provoziert die McLaren-Krise in Ungarn erst

Über 3 der 4,4 Sekunden verschwanden in Runde 33. Passiert war eine desaströse Verkettung kleiner Fehltritte. Piastri fuhr gerne weite Linien, und flirtete mit mehreren Rasenteppichen an Kurvenausgängen. Das sorgte für kleine Rutschphasen am Heck und trieb die Temperaturen der Hinterreifen in die Höhe.

In Runde 33 fuhr er erneut in Kurve 9 auf den Teppich. Als er in Kurve 11 einlenkte, gab die Hinterachse nach. Mit einem massiven Rutscher ruderte er durch die verdreckte betonierte Auslaufzone. Damit verlor er kurz komplett die Kontrolle über die in der Ungarn-Hitze sehr anfälligen Reifen. Eineinhalb Runden brauchte er, um die Lage zu stabilisieren. Norris war plötzlich auf 1,3 Sekunden dran und im Undercut-Fenster.

Renningenieur Tom Stallard versuchte Piastri weiter zu coachen: "Bleib weg von den Teppichen, das heizt die Hinterreifen stark auf. Bring sie wieder runter, und wir sind in einer guten Position." Aber Norris ließ sich nicht mehr abschütteln. Er hatte sich seine Hinterreifen gut eingeteilt. Davor hatte es schließlich keinen Sinn für ihn gemacht, überhaupt zu pushen. Überholen benötigte an diesem Sonntag einen gigantischen Pace-Vorteil.

Das bedeutete aber auch, dass Piastri Norris in der verwirbelten Luft konstant auf Abstand halten konnte. Mit ihren beiden Fahrern nun plötzlich dicht beieinander sah sich McLaren ab Runde 40 mit einer im Angesicht des Doppelsieges schwierigen strategischen Lage konfrontiert. Vier Risiko-Faktoren galt es abzuwägen.

Vier Faktoren für die McLaren-Strategie: Vertrauen in Norris entscheidet

1. Wie nah durfte Lewis Hamilton kommen? Erste treibende Kraft war Lewis Hamilton mit seinen frühen Undercuts. Nach einem Stopp in Runde 40 gewann er eine Sekunde pro Runde. Das war ein berechenbares Risiko. McLaren wollte das für maximale Risiko-Minimierung nutzen - und mindestens 5 Sekunden Puffer auf Hamilton. Um sich einen groben Fehlgriff beim Reifenwechsel erlauben zu können.

War es noch zu früh für einen Wechsel auf Medium? Nächster Punkt auf der Prioritätsliste waren die Reifen. Hamilton stoppte schon 30 Runden vor Schluss auf Hard. McLaren hatte nur mehr Medium - wie lange würde der halten? Statt sofort auf Hamilton zu reagieren, entschied das Team, bei beiden Fahrern den Stopp so lange wie möglich hinauszuzögern. Wieder für maximale Risiko-Minimierung. Die hatte hier mit Max Verstappen zu tun.

Wie groß war die Gefahr durch Max Verstappen? Red Bull stoppte nämlich sehr spät, um einen Reifenvorteil zu erzeugen und hintenraus mit mehr Pace Druck zu machen. McLarens Angst: Würde man nur auf Hamilton reagieren, könnte Verstappen mit 10 Runden frischeren Reifen an allen vorbeifliegen.

Auch wenn die Verstappen-Gefahr im Rennen zunehmend zweifelhaft aussah. Schon beim ersten Stopp hatte Red Bull den Trick versucht. Selbst auf frischeren Reifen war Verstappen bei freier Fahrt aber nur gleich schnell als Piastri. Und obwohl er an einem Punkt fast eine Sekunde schneller war als der vor ihm fahrende Lewis Hamilton, kam er nicht vorbei. Nach dem Rennen erkannten viele Teams: Sie hatten vorab unterschätzt, wie schwierig Überholen auch mit Reifenvorteil sein würde.

Würde Lando Norris eine geschenkte Führung zurückgeben? Im Rennen aber bestand McLaren auf Risiko-Minimierung. Der Weg des geringsten Risikos: Darauf vertrauen, dass Norris dem "McLaren-Weg" folgen würde, wie Teamchef Andrea Stella es später wiederholt ausdrückte. Man stoppte also beide Fahrer genau an jenem Punkt, an dem sich Reifen-Sorgen und Hamilton-Puffer kreuzten, und nahm keine Rücksicht auf die Position auf der Strecke.

Warum war Lando Norris am Schluss schneller?

Norris stoppte daher zwei Runden früher und übernahm die Führung. So weit, wie er in den nächsten 20 Runden Piastri davonfuhr, war allerdings Piastri seinerseits Norris nie entkommen. 6 Sekunden waren es in Runde 66, bevor er rausnahm und Piastri den Sieg übergab. Doch Andrea Stella will Schlussfolgerungen bremsen: "Wenn du heute die Pace einstufst, musst du aufpassen. Bei diesen Bedingungen konntest du nicht durchgehend pushen."

Was sagen die Zahlen? In den ersten drei Runden nach dem Stopp zog Piastri das Tempo an und verkürzte seinen Rückstand um fast eine Sekunde, um seinen Anspruch auf den Platztausch zu untermauern. Damit kam er in Norris' verwirbelter Luft an. An dem Punkt reagierte Norris. Just als ihm Renningenieur Will Joseph in Runde 53 mitteilte, dass man jetzt mit seinem Reifenmanagement zufrieden sei.

Norris' verschärftes Tempo führte zu rundenlangen Bitten von Joseph am Funk, über die er sich ebenso lange hinwegzusetzen schien. Stella will den letzten Stint unter diesen volatilen Umständen daher nicht als Referenz herziehen für ein Argument, wonach Norris der bessere Fahrer war: "Als Rennfahrer wollte Lando uns zeigen, dass er das Zeug zum Sieg hatte. Aber das wussten wir."

"Heute haben beide Fahrer sehr ähnlich ausgesehen", lautet Stellas abschließendes Fazit. "Wir haben nur getan, was fair war." Piastri war es, der den Start gewann. Piastri war es, der das Rennen an der Spitze kontrolliert hatte. Bei gleichen Autos gibt es trotz Piastris Fehler keinen Grund zur Annahme, dass Norris dieses Rennen ohne die risikoarme Team-Strategie gewonnen hätte. Erst recht darf angezweifelt werden, ob McLaren bei von vornherein korrekter Reihung nicht sowieso nach dem Stopp die Positionen eingefroren hätte. Die Team-WM ist um einiges realistischer als Norris' Fahrertitel.