Die MotoGP erlebt 2024 ihren dritten titanischen Kampf um die Fahrer-Weltmeisterschaft in Serie. Vier Grand Prix vor Schluss trennen Titelverteidiger Francesco Bagnaia und WM-Leader Jorge Martin lediglich zehn Punkte, 148 Zähler werden ab kommender Woche in Australien, Thailand, Malaysia und Valencia noch vergeben. Das Kuriose dabei: Der vermeintlich schnellere Fahrer befindet sich 2024 (noch) in der Verfolgerposition.
Auf dem Papier ist es nämlich Bagnaia, der in Sachen Rennsiege in der laufenden Saison klar die Nase vorne hat. In den Sprints führt der Ducati-Pilot seit seinem Erfolg in Motegi mit sechs zu fünf Siegen gegen den vermeintlichen Sprint-Meister Martin und im Hauptrennen steht es seit dem Japan-Grand-Prix sogar acht zu drei für Bagnaia, der mit seinem Triumph gleichzeitig einen persönlichen Bestwert aufstellte. Acht GP-Siege innerhalb eines Kalenderjahres holte er in der MotoGP zuvor noch nie, einzig die Größen Valentino Rossi, Marc Marquez, Jorge Lorenzo und Casey Stoner erreichten diesen Meilenstein bereits mindestens einmal.

Davide Tardozzi: Paradox, dass Pecco zehn Punkte zurückliegt!
"Es ist paradox, dass Pecco acht Hauptrennen gewonnen hat und Jorge nur drei, er in der Weltmeisterschaft aber zehn Punkte zurückliegt", kommentiert deshalb Ducati-Teammanager Davide Tardozzi im Interview mit 'GPOne.com'. Der 65-jährige Italiener fährt fort: "Das hinterlässt bei ihm sicherlich eine offene Wunde, aber ich denke, dass Bagnaia das korrekt einschätzen kann. Ich bin überzeugt, dass er uns noch die Genugtuung verschaffen wird, die er und das gesamte Team verdienen."
Doch wie kommt es denn überhaupt zustande, dass sich Bagnaia trotz größerer Siegesanzahl im WM-Rückstand befindet? Die Erklärung findet sich in den Sprints wieder. Im Grand Prix nehmen sich beide Piloten nämlich praktisch nichts, bringen es jeweils auf 12 Podien und drei (Bagnaia) bzw. zwei (Martin) Ausfälle. Da Martin zusätzlich aber noch im San-Marino-GP nach seinem missglückten Boxenpoker nur 15. wurde, steht es dort in Summe sogar 279 zu 261 Punkte für den amtierenden Weltmeister.
In den Sprints kommt Martin jedoch ebenfalls auf 12 Podien, während Bagnaia dort in Summe nur achtmal unter die Top-Drei fuhr. Zudem landete Martin dort überhaupt nur zweimal außerhalb der besten Vier, während Bagnaia im Sprint gleich vier Ausfälle anschrieb und je einmal nicht über die Plätze acht und neun hinauskam. Das macht in Summe ein Punkteverhältnis von 131 zu 103 zugunsten des Pramac-Piloten. Seine größere Konstanz belohnt ihn folglich mit der WM-Führung.

Francesco Bagnaia auf Kurs bester MotoGP-Vizeweltmeister?
Das bedeutet aber bei weitem nicht, dass Bagnaia 2024 eine schlechte Saison fährt, im Gegenteil. Der Ducati-Star kommt im laufenden Kalenderjahr auf einen Schnitt von 23,875 Punkten pro Rennwochenende und liegt damit sogar knapp über seinem Punkteschnitt von 23,35 aus der Vorsaison, welcher 2023 letztlich noch komfortabel zum WM-Gewinn reichte. Vizeweltmeister Martin lag im letzten Jahr am Ende 39 Zähler zurück, brachte es somit 'nur' auf einen Schnitt von 21,4 Punkten pro Rennwochenende - also mehr als zwei Punkte weniger als Bagnaia derzeit. Droht dem Titelverteidiger - sollten beide Piloten ihren bisherigen Schnitt bis zum Saisonende halten können - mit einem Resultat von 478 Punkten [23,875 * 20 GPs, Anm.] also der unrühmliche Titel als 'bester Vizeweltmeister aller Zeiten'?
Die kurze Antwort: Ja. In der 75-jährigen Geschichte der Motorrad-WM hatte nämlich noch nie ein Vizeweltmeister einen ähnlich hohen Punktebetrag. Doch das muss natürlich im Verhältnis betrachtet werden. Denn mit 20 Grands Prix in einem Jahr stellte die MotoGP in der laufenden Saison 2024 erneut den Höchstwert aus den Jahren 2022 und 2023 ein, zudem wurden erst 2023 die Sprints eingeführt. Es gab also erst einmal - in der Vorsaison - die Möglichkeit, überhaupt so viele Punkte zu sammeln. In Jahren davor gab es maximal 500 Punkte insgesamt bzw. 25 Zähler pro Rennwochenende zu holen.

Ein finales Urteil bleibt damit unmöglich, denn würden aus Gründen der Vergleichbarkeit nur die GP-Punkteschnitte verglichen werden, wäre Bagnaia nicht Vize-, sondern Weltmeister, da er im direkten Vergleich mit Martin derzeit den besseren GP-Punkteschnitt vorweisen kann (279 zu 261 Punkte, Anm.) und das Bild durch die fehlenden Sprints verfälscht werden würde. Ziehen wir trotzdem einen Vergleich, würden sich aber beide Piloten weit oben im Ranking der besten MotoGP-Vizeweltmeister einsortieren: Bagnaia landet auf Platz vier, Martin wäre Achter. Unabhängig vom WM-Ausgang 2024 ist damit jedoch klar: Zumindest nach GP-Punkteschnitt würde Dani Pedrosa mit einem Schnitt von 18,4 Punkten pro Rennen aus dem Jahr 2012 weiterhin der erfolgreichste Vizeweltmeister bleiben, dicht gefolgt von Jorge Lorenzo (2013) und Valentino Rossi (2015). Der schlechteste Zweitplatzierte in der MotoGP-Ära ist übrigens Franco Morbidelli, der in der Saison 2020 nicht über einen Schnitt von 11,3 Punkten pro Grand Prix hinauskam.
Die besten MotoGP-Vizeweltmeister nach GP-Punkteschnitt
Pos. | Fahrer | Saison | Punkteschnitt |
---|---|---|---|
1 | Dani Pedrosa | 2012 | 18,4 |
2 | Jorge Lorenzo | 2013 | 18,3 |
3 | Valentino Rossi | 2015 | 18,1 |
4* | Francesco Bagnaia* | 2024* | 17,4* |
4 | Jorge Lorenzo | 2011 | 17,33 |
5 | Sete Gibernau | 2003 | 17,31 |
6 | Valentino Rossi | 2014 | 16,4 |
7 | Dani Pedrosa | 2010 | 16,33 |
8* | Jorge Martin* | 2024* | 16,31* |
8 | Sete Gibernau | 2004 | 16,1 |
9 | Casey Stoner | 2008 | 15,6 |
10 | Jorge Lorenzo | 2009 | 15,4 |
… | … | … | … |
22 | Franco Morbidelli | 2020 | 11,3 |
Von solch einem niedrigen Wert sind Bagnaia und Martin 2024 aber weit entfernt, weshalb Tardozzi sagt: "Es gab noch kein Jahr, in dem beide Fahrer den Titel so sehr verdient hätten. Wer auch immer Zweiter werden wird, hätte ihn genauso verdient." Einen Favoriten hat der Ducati-Teammanager dabei zumindest offiziell nicht, auch wenn er insgeheim sicherlich Werkspilot Bagnaia die Daumen drücken wird. "Der Wettbewerb ist komplett offen, beide können den Titel gewinnen", sagt Tardozzi und ergänzt: "Wer immer gewinnen wird, hat es verdient und wer immer verlieren wird, hat den zweiten Platz nicht verdient."
Was glaubt ihr: Francesco Bagnaia oder Jorge Martin - wer setzt sich in Valencia die Krone auf? Gebt uns eure Tipps in den Kommentaren ab!
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