Wenn sogar ein Kelvin van der Linde (Abt-Audi) dem Trubel der Startaufstellung entflieht, weiß man: Im Kampf um die DTM-Meisterschaft herrscht Druck ohne Ende! Der Deutsch-Südafrikaner verkroch sich vor dem Rennstart in Hockenheim kurzzeitig hinter seinem Audi R8 LMS GT3, den er zuvor am Morgen auf nasser Piste zur Pole Position befördert hatte. "Ich mache mir gerade ein bisschen in die Hosen", ließ van der Linde im Grid-Gespräch mit ProSieben-Moderatorin Andrea Kaiser seine Stimmungslage durchblicken.
Im Rennen gab es für den späteren Rennsieger, neuen Meisterschaftsführenden und jetzigen Titelfavoriten weitere 'Hose-Voll-Momente': Nach dem Start sorgte Verfolger Lucas Auer (Winward-Mercedes) auf seinem Weg zum ersten Saisonpodest für massiven Druck. In der ersten Rennhälfte konnte sich das Duo zunächst etwas absetzen, doch der Zweikampf ließ die Verfolger um Ayhancan Güven und die Titelanwärter Mirko Bortolotti sowie Maro Engel immer näher heranrücken.
Kelvin van der Linde dreht 15 Punkte Rückstand in 2 Zähler Vorsprung
"Ich habe überlegt, ob ich mit fünf Autos kämpfen will oder mit einem", erklärte später van der Linde, der sein Abt-Team in der ersten Rennhälfte sogar per Funk gefragt hatte, ob er den heranstürmenden Auer nicht lieber ziehen lassen solle, statt sich im Zweikampf aufzuwühlen. "Ich hatte Angst, dass alle von hinten ankommen und großes Chaos entsteht, wenn ich zu sehr kämpfe. Ich wusste ja, dass ich sowieso vor Mirko (Bortolotti) bin und ihm dann Punkte wegnehme."
Van der Lindes Abt Sportsline-Truppe um seinen Renningenieur und Kumpel Leon Wippersteg verfolgte jedoch einen anderen Plan und wies ihn an, die erste Position zu verteidigen. Diese Herangehensweise sollte sich trotz eines zwischenzeitlichen Verlusts der Führung als goldrichtig erweisen: Van der Linde gewann das Rennen knapp vor Auer und münzte am Samstag einen einstigen Rückstand von 15 Zählern zu Bortolotti in eine 2-Punkte-Führung um. Für den 28-Jährigen war es der dritte Saisonsieg, womit er am Sonntag im Falle eines Punktegleichstandes die DTM-Meisterschaft gewinnen würde.
Auer verbremst sich: Schlüssel zum Sieg für van der Linde
Auer war nach seiner bisher schwachen Saison heiß auf den ersten Sieg und ließ van der Linde seine Ambitionen spüren. Nach den Boxenstopps übernahm der Österreicher durch einen Overcut in Runde 18 kurzzeitig die Führung, bis er mit seinen kalten Reifen in der letzten Kurve leicht rausrutschte und damit die Tür für van der Linde öffnete. Der nahm die Einladung dankend an, hatte aber nicht die Pace, um sich einen Vorsprung herauszuarbeiten.
"Als Lucas vorbei war, war mir eigentlich klar, dass er wegfährt", sagte van der Linde. "Ich glaube, er hätte das Rennen locker gewonnen, wenn ihm dieser Fehler nicht passiert wäre. Das war der Schlüssel." Der Mercedes-Pilot steckte in der Folge nicht auf und klopfte mehrfach in der Spitzkehre an van der Lindes Red-Bull-Audi an. In Runde 31, sechs Umläufe vor dem Ende, kam es in der Haarnadel sogar zu einer Berührung, die für beide Fahrer allerdings glimpflich ausging.
"Wenn du die Meisterschaft anführst, nutzen die anderen Autos natürlich aus, dass du nicht so viel Risiko nimmst", war van der Linde vom aggressiven Auer keineswegs überrascht, meldete bei der leichten Kollision aber eine "Herzfrequenz von 230". Und weiter: "Ich habe das die letzten Jahre auch gemacht. Diesmal habe ich mich entschieden, keinen Platz zu lassen. Heute war nicht der Tag, um aufzugeben. Dann ein Rennen so zu gewinnen, ist noch toller. Aber der Druck war groß, ich hab' mir mehrfach in die Hose gemacht."
Van der Linde vor mehreren DTM-Meilensteinen
Nach dem Zieleinlauf fiel erst einmal eine gehörige Last von van der Lindes Schultern, der im Falle des greifbaren Titelgewinns mehrere Meilensteine setzen würde: Für ihn wäre es die erste DTM-Meisterschaft seit dem Debüt im Jahr 2021 und für Abt Sportsline die erste seit anno 2009 durch Timo Scheider. Ebenso wäre es das perfekte Abschiedsgeschenk, nachdem die Äbte nächstes Jahr von Audi zu Lamborghini wechseln und offen ist, ob 2025 noch Ingolstädter Rennwagen in der DTM-Startaufstellung stehen.
"Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir jetzt die Meisterschaft anführen", meinte van der Linde. "In keinem Strategie-Meeting in den letzten zwei Wochen stand auf irgendeinem Zettel, dass wir vorne sein würden." Noch ist der Titelgewinn aber nicht im Sack, denn: Van der Linde erhält für seinen Sieg einen Erfolgsballast von 20 Kilogramm aufgebrummt, während die Rivalen Bortolotti und Engel 'leer ausgehen'.
Das Zusatzgewicht wird per Reglement erst zum Rennen eingeladen, nicht schon im Qualifying. Van der Linde haderte: "20 Kilo im Audi sind eine Welt. Die werden uns morgen killen, die Strecke ist sehr sensitiv (für den Reifenverschleiß; d. Red.)." Für volle Hosen ist ein Rennen vor Schluss aber kein Platz mehr, und so wählte 'KVDL' lieber die Abteilung Attacke als Marschroute: "Wir müssen nicht gewinnen, aber vor Mirko und Maro ankommen. Das ist das Ziel."
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